Das Recht auf Eigentum - ein Menschenrecht?
Beitrag zum Philosophy Slam
Bamberg 2014
Zu den Menschenrechten, die im Grundgesetz und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 der UNO, Art. 17, verankert sind, gehört auch das Recht auf Eigentum. Das heißt: es wird in eine Reihe gestellt mit dem Recht auf Leben, auf persönliche Freiheit, auf körperliche Unversehrtheit. Ist das Recht auf Eigentum wirklich genau so wichtig?
Wenn ich auf mich selbst blicke, finde ich es durchaus angenehm, dass es Dinge gibt, über die ich verfügen kann und kein anderer. Ich brauchte zum Beispiel heute nur in meinen Schrank zu greifen, um die Kleider herauszunehmen, in denen ich mich Ihnen heute präsentiere. Von Schwestern und Teilnehmerinnen von Wohngemeinschaften habe ich schon Horrorgeschichten gehört, wie Dinge, die sie zu einem wichtigen Termin tragen wollten, im entscheidenden Moment nicht da waren, weil die liebe Schwester oder Freundin sich ohne zu fragen oder auch nur Bescheid zu sagen, selbst bedient hatten. Bei mir stimmt im Allgemeinen der Satz, den meine Mutter immer auf die Frage „Wo ist denn…“ zur Antwort gab: „Dort, wo du es hingelegt hast!“ Das ist eine Wahrheit, die in manchen Situationen sehr beruhigend sein kann.
Ich finde es auch gerecht, dass ich über meine Kleidung, meine Küchenschere, meine Bücher selbst verfügen kann. Schließlich habe ich dafür Geld ausgegeben, das mir für Arbeit, die ich geleistet habe, bezahlt wurde. Damit vergüte ich die Arbeit eines anderen, der die Gegenstände, die ich besitzen möchte, gefertigt hat und der sich davon wieder Dinge seiner Wahl kaufen kann. Ein sinnvoller Kreislauf. Es gibt noch einen anderen Weg: Eine Freundin von mir hat wunderschöne Pullover, die sie sich selbst gestrickt hat. Auch in diesem Fall ist ihr Besitz eine Folge einer vorausgegangenen Leistung. Ich denke, die Mehrheit teilt mein Gerechtigkeitsempfinden, dass es richtig ist, wenn jeder die Früchte seiner eigenen Arbeit nach eigenem Gutdünken genießen kann. Klammern wir einmal das Problem aus, unterschiedliche Arbeiten zu vergleichen und einen „gerechten Lohn“ zu finden. Und auch den Sonderfall, dass jemand von der Arbeit eines anderen profitiert, finden wir wohl alle in Ordnung, wenn es sich um ein freiwilliges Geschenk handelt.
Doch die Begründung von Gut gegen Leistung kommt irgendwann an ein Ende. Nehmen wir als Beispiel das Brot. Wenn ich es kaufe, bezahle ich die Leistung des Bäckers. Doch nicht diese allein, denn im Preis inbegriffen ist, dass der Bäcker Mehl, Gewürze und Triebmittel kaufen und die Leistung der Produzenten vergüten musste. Der Müller wiederum musste die Bauern bezahlen, die das Korn geliefert haben. Doch das Korn konnten die Bauern nicht allein kraft ihrer Arbeit produzieren, obwohl harte Arbeit durchaus dazu nötig ist. Genauso unerlässliche Komponenten aber sind der Boden und das Klima und die vorgefundene genetische Struktur der Kornpflanzen. Wenn die Kommunisten sagten: „Ohne Gott und Sonnenschein holen wir die Ernte ein!“ so weiß jeder denkende Mensch, dass das - zumindest im Hinblick auf den Sonnenschein - purer Unsinn ist. Wenn wir die Produktionskette anderer Güter zurückverfolgen, bin ich sicher, dass wir auch dort schließlich immer an einen Punkt kommen werden, wo etwas, das von Natur aus ohne jedes menschliche Zutun schon da ist, die unerlässliche Grundlage des ganzen Prozesses bildet. Doch da diese Komponenten nicht von Menschen erstellt werden, sollte man erwarten, dass wir auch nichts dafür zahlen müssen
Unsere Wirtschaftsordnung sieht allerdings anders aus: Ein Großgrundbesitzer, der selbst bei der Bewirtschaftung seiner Felder in keiner Weise mit Hand anlegt, darf erwarten, dass allein der Besitz des Landes ihm Geld einbringt, wenn er es anderen zur Bewirtschaftung zur Verfügung stellt. Wieso kann etwas, das von Natur aus da ist, das Eigentum eines einzelnen Menschen sein? Er mag es gekauft haben, so wie ich das Brot. Doch wer hatte denn ein Recht, es ihm zu verkaufen?
Aus der Ethnologie wissen wir, dass Naturvölker im Allgemeinen kein Eigentum an Grund und Boden kannten. Die Natur wurde als unverfügbar angesehen oder der urbare Boden gehörte der Sippe als ganzer. Das scheint sich erst im Zuge der Eroberungskriege gewandelt zu haben. Es gab ja nicht nur die germanische Völkerwanderung - bei uns „die Völkerwanderung" genannt - sondern davor schon die 1. und 2. Indoeuropäische Wanderung und die große Wanderungsbewegung der Kelten. Ganze Völkerschaften verließen ihr angestammtes Gebiet, wahrscheinlich weil es durch Klimaveränderungen oder Geburtenüberschüsse nicht mehr genug Lebenschancen für alle bot. Sie vertrieben, wenn sie dazu in der Lage waren, andere Völker aus deren Gebiet. Deren Land wurde dann aufgeteilt, nicht immer gleichmäßig, sondern oft mit größeren Landstücken für diejenigen, die sich in diesen Kämpfen besonders hervorgetan hatten. In den späteren Raubzügen wurde oft mehr Land an einen einzelnen gegeben, als dieser mit seiner Familie bewirtschaften konnte. In diesen Fällen wurden die alten Einwohner nicht vertrieben, sondern als Sklaven, Leibeigene oder Hörige gleich mit verteilt. Und diese Großgrundbesitzer haben dann die ganze Wirtschaftsordnung maßgeblich geprägt. Noch nach Abschaffung der Leibeigenschaft saßen sie am längeren Hebel, da sie Möglichkeiten hatten, andere von der Nutzung des Landes auszuschließen, das sie selbst nicht bewirtschaften konnten. Das wiederum hieß, dass sie es mit eigenem Nutzen verpachten konnten. Fazit: Die Leistung, der die Eroberer und deren Nachkommen ihre günstige Ausgangslage verdankten, war eine kriegerische, um nicht zu sagen: erfolgreicher Raub. Daher halte ich es moralisch für zulässig, wenn ein Volk diese Eigentumsregelungen und –verteilungen ändert, sofern es zu dem Schluss kommt, dass damit der Allgemeinheit besser gedient ist.
Was kann man schon zur Verteidigung des Prinzips anführen, dass Räuber ihre Beute behalten dürfen und das über Generationen? Ein Argument wäre, dass es sinnvoll ist, irgendwann einmal den Status quo anzuerkennen, weil sonst die Verteilungskämpfe nie aufhören und nie Frieden einkehren kann. Einverstanden. Doch das ist ein Argument der Zweckmäßigkeit, nicht der Moral. Moralisch könnte man den Erwerb durch Kampf, bei dem man immerhin auch das eigene Leben in die Waagschale wirft, als Leistung anerkennen, die Fakten und damit positives Recht schafft. So haben das diese wandernden Völker wohl auch empfunden. Doch wenn Macht Recht schafft, wäre es nach diesem Maßstab auch gerecht, bei neuen Machtverhältnissen auch die Besitzverhältnisse zu verändern.
Wenn wir aber Eigentumsrechte anders begründen wollen, wenn wir sagen, Diebstahl und Raub sollten geächtet sein, die Täter verfolgt und die Beute den früheren Eigentümern zurück gegeben werden, weshalb sollte man die Ergebnisse früherer Machtverhältnisse für unantastbar halten?
Natürlich vermischen sich die Dinge in der Realität. Wenn jemand eine Sache in der geltenden Rechtsordnung als sein Eigentum betrachten darf, so gibt er sich vielleicht besondere Mühe, sie pfleglich zu behandeln und ihren Wert zu erhalten. Damit erbringt er eine Leistung und die müsste bei einer moralisch zu rechtfertigenden Änderung der Eigentumsordnung irgendwie entgolten werden. Doch der Maßstab wäre dann die bereits erbrachte Arbeit oder Investition, nicht ein Marktwert, den es in der neuen Ordnung vielleicht gar nicht gäbe und keine Vorausverzinsung zukünftiger
Erwartungen.
Ich will damit nun nicht sagen, dass eine Gleichverteilung oder Vergesellschaftung aller Naturgüter die Ideallösung aller wirtschaftlichen Probleme wäre. Als gerecht würde ich sie schon empfinden. Doch werfen sich dann ganz neue Fragen der Zweckmäßigkeit auf. Im Sinne der Nachhaltigkeit könnte sich eine solche Umver-teilung sogar als kontraproduktiv erweisen. Nur moralisch gesehen empfinde ich das Eigentum nicht als sakrosankt. Allerdings betrachte ich es als wünschenswert, dass es klare Regeln dafür gibt, womit ein Mensch selbst nach Gutdünken oder auch unter gewissen Auflagen schalten und walten darf und dass diese Regeln für alle gleicherweise gelten.
Bruderliebe und Nächstenliebe
Ansprache
Hamburg, Gemeinde Wartenau, ca. 1974
Meine lieben Geschwister und Freunde,
ich habe heute ein sehr dankbares Thema bekommen, nicht wahr? Es ist vielleicht die wichtigste Lehre des Christentums; jedenfalls ist es das Kernstück, die zentrale Aussage der christlichen Ethik.
Bitte lächeln Sie jetzt nicht nachsichtig mit dem Gedanken: "Nun, ja, jeder versucht bei jedem Thema, herauszustellen, dass das, worüber er spricht, auch ganz besonders wichtig ist." Meine Behauptung wird durch die Bibel gestützt. In vielen Briefen finden wir dort Bemerkungen in dieser Richtung. Die bekannteste und vielleicht eine der schönsten Stellen der Weltliteratur ist der Preis der Liebe durch Paulus. Mit dieser Bewertung der Liebe haben die Apostel nur das weitervermittelt, was unser Heiland selbst sie gelehrt hatte. Er sagte einmal:
"Ein neu Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt
habe, auf dass auch ihr einander lieb habet."
Dabei wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander
habt.
(Joh. 13: 34 u. 35)
Daran also, an der Liebe, die unter uns herrscht, zeigt sich unser Verhältnis zu Christus, unser Glaube.
Nicht daran, dass wir jeden Sonntag zur Kirche gehen, nicht daran, dass wir das Wort der Weisheit halten und ein reines Leben führen, nicht daran, dass wir den Zehnten zahlen: der eigentliche Prüfstein unseres Glaubens ist unsere Fähigkeit und Bereitschaft, unseren Mit-menschen mit Liebe zu begegnen.
Vielleicht könnten wir manchmal in Gefahr geraten, dies zu vergessen, da wir in unserer Kirche so viel von den anderen Dingen hören. Bei jedem Interview mit dem Bischof, wenn wir ein neues Amt antreten oder den Tempel besuchen wollen, werden wir danach gefragt, wie wir praktisch zum Wort der Weisheit, der sexuellen Reinheit und dem Zehnten stehen, nach unserem Verhältnis zum Gebot der Liebe wird nie gefragt.
Ein Zeit lang habe ich es ein bisschen lächerlich gefunden, dass so viel Gewicht auf die banalen Äußerlichkeiten gelegt wird, während man an den wirklich wichtigen Dingen in diesen Interviews scheinbar vorbei geht.
Aber schließlich habe ich begriffen, dass die Brüder auf die äußeren Dinge als Indizien angewiesen sind, wenn sie unseren Stand im Evangelium beurteilen und uns davor bewahren sollen, mit geistigen Erlebnissen konfrontiert zu werden, für die wir noch nicht richtig vorbe-reitet sind. Schließlich ist das Einhalten dieser äußeren Gebote ein Hinweis darauf, dass wir das Evangelium ernst nehmen, dass wir Gott gern gefallen möchten und uns deshalb auch um die subtileren, schwerer fassbaren Gebote zumindest bemühen werden.
Außerdem haben diese Fragen den Vorteil, dass sie ziemlich eindeutig sind. Auf die Frage "Halten Sie das Wort der Weisheit?" weiß jedes Mitglied sofort, ob es ehrlichen Herzens "Ja" sagen kann. Aber stellen wir uns nur einmal vor, der Bischof würde stattdessen fragen: "Lieben Sie Ihre Geschwister?" Sofort würden in uns die verschiedensten Fragen auftauchen: "Was meint er jetzt? Reicht es, dass ich gegen niemanden etwas habe, ohne Streit lebe? Muss ich von allen Mitgliedern gleicher Weise begeistert sein? Oder geht es darum, dass ich etwas für sie tun soll? Wenn ja, wie viel?" und so weiter. Die Antworten auf diese Frage hätten für die Zwecke des Bischofs keine Aussagekraft, weil die verschiedenen Vorstellungen der Antwortenden über Liebe in sie einfließen würden.
Wollte der Bischof diese Fragen konkretisieren, könnte er sie etwa folgendermaßen auf-schlüsseln:
Wie vielen Menschen lächeln Sie im Laufe eines Tages zu?
Können Sie den Menschen leicht ansehen, in welcher Stimmung sie sind, und interessieren Sie sich überhaupt dafür?
Wie vielen Menschen erweisen Sie kleine Gefälligkeiten, ohne dazu verpflichtet zu sein?
Bei wie vielen Menschen freuen Sie sich, wenn Sie sie treffen?
Wenn Sie mit jemandem sprechen, sind Sie dann ganz bei diesem Gespräch und bei diesem Menschen, oder lassen Sie Ihre Gedanken zu anderen Dingen abschweifen?
Wie viele Menschen gibt es, für die Sie auch dringende Arbeiten aufschieben würden, wenn diese Ihre Hilfe brauchen?
Für wie viele Menschen könnten Sie auf Dinge verzichten, auf die Sie sich gefreut haben?
All dies sind Verhaltensweisen, die uns bei Menschen, die wir gern haben, oft erstaunlich leicht fallen und sonst meistens so schwer sind! Vielleicht könnte man sich selbst diese Dinge anerziehen, so dass sie zur mechanisch ausgeübten Gewohnheit werden, ohne Ausdruck für unsere Gefühle zu sein. - Ich halte das für unwahrscheinlich. Vor allem sehe ich keinen Grund, weshalb sich jemand diese Mühe machen sollte, wenn er nicht von Zuneigung dazu getrieben wird. Trotzdem sollen wir uns darin üben, unser Herz so auszuweiten, unsere Brüder und Schwestern so sehr mit den Augen Gottes zu sehen, der sie liebt, dass wir möglichst vielen Menschen so begegnen können, zumindest den Geschwistern in der Kirche.
Wer nicht zur Kirche gehört, könnte hier vielleicht einwenden: "Das klingt ja alles sehr schön, aber warum ist hauptsächlich von den Mitgliedern die Rede? Kapselt sich eine so kleine Kirche damit nicht zu sehr ab? Wird hier nicht ein Gruppenegoismus gezüchtet, in dem die Mitglieder nur noch füreinander da sind, alle Außenstehenden ausschließen und deren Bedürfnisse kaum noch wahrnehmen?"
Und diese Kritik ist völlig berechtigt, wenn wir die Aufforderung: "Habt Liebe unterein-ander!" in dieser Weise verstehen, denn Christus sagt auch: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Unser Nächster kann jeder Mensch werden, der uns braucht, ohne Einschränkungen, egal welche Eigenschaften er haben mag. Und doch wird im Neuen Testament neben dieser allgemeinen Aufforderung zur Liebe ständig und gesondert davon auf die Liebe hingewiesen, die Christen untereinander haben sollen. Hat es damit eine besondere Bewandtnis? Welche Gründe könnte es geben, diese Liebe so in den Vordergrund zu rücken?
Eine mögliche Antwort finden wir im 2. Petrusbrief, Kap. 1 Vers 6-7:
"Eben darum müsst ihr aber auch mit Aufbietung allen Eifers in eurem Glauben die
Tugend erweisen, in der Tugend die Erkenntnis, in der Erkenntnis die Selbstbeherrschung,
in der Selbsbeherrschung die Standhaftigkeit, in der Standhaftigkeit die Gottseligkeit, in
der Gottseligkeit die Bruderliebe, in der Bruderliebe die Liebe zu allen Menschen."
Hier steht die Liebe zu allen Menschen am Ende einer langen Entwicklung im christlichen Glauben, und die Bruderliebe geht ihr unmittelbar voran.
Ich verstehe das so, dass die Kirche eine Art Trainingsfeld ist, wo wir uns unter erleichterten Bedingungen in der Liebe üben können. Natürlich ist es leichter, gut mit Menschen auszu-kommen, die die gleichen Ziele haben wie wir, gleiche Normen, und daher eine in vielen Dingen ähnliche Lebensweise, und die, da sie sich auch an Christi Lehren orientieren, bemüht sind, uns freundlich und zuvorkommend zu begegnen. Wirklich Geschwister, wenn wir unter-einander keine Sympathie aufbringen können, was wollen wir machen, wenn wir Menschen begegnen, die sich flegelhaft benehmen, andere ducken, uns wegen kleiner Fehler gleich grob anfahren, oder auch nur von Idealen begeistert sind, die wir nur mit großer Skepsis betrachten können. Dann würden wir diese Menschen ablehnen, nicht nur ihr Verhalten, und damit die Fronten verhärten und diese Menschen in ihrem Trotz und ihrer Ablehnung bestätigen. In der Kirche aber wissen wir, wo die gemeinsame Basis ist, und können deshalb leichter lernen, vorhandene Gegensätze freundlich und fair auszutragen.
Liebe zeigt sich am deutlichsten in der konkreten Hilfsbereitschaft. Sollen auch da die Mitglieder ein Vorzugsrecht genießen? Ich glaube ja. Vor etwa zehn Jahren hatte ich über diese Frage einen heißen Disput. Der Herr, mit dem ich diskutierte, fand diese Entscheidung unmöglich und fragte mich: "Angenommen, Sie kennen zwei Familien, die in Not sind, die eine gehört zu Ihrer Kirche, die andere nicht, und Sie hätten 100 DM übrig, die Sie als Hilfe ausgeben könnten. Dann würden Sie also nach Ihrer Maxime das Geld der Kirchenfamilie geben und die andere Familie ungerührt darben lassen! Wäre es nicht gerechter, das Geld auf beide Familien aufzuteilen?" "Natürlich wäre das gerechter, und ich würde in solch einem Fall das Geld auch teilen", entgegnete ich, beharrte aber darauf, dass ich den Mitgliedern zuerst helfen würde, falls die Hilfe unteilbar wäre. Damals fand ich leider kein geeignetes Beispiel dafür, inzwischen ist mir eines eingefallen. Nehmen wir an, ich könnte einem arbeitslosen Familienvater eine Stelle vermitteln, was eine viel umfassendere und wirksamere Hilfe wäre als eine kleine Summe Geld, so könnte ich diese Hilfe nicht teilen, solange ich nur von einer Stelle wüsste.
Unter der Voraussetzung, dass die Verhältnisse ansonsten in beiden Familien gleich und beide Väter für die Stellung geeignet wären, würde ich hier tatsächlich die Familie aus der Kirche vorziehen. Warum? Nicht n u r aus Korpsgeist. Denn bei einer Mormonenfamlie setze ich voraus, dass sie, sobald sie auf eigenen Füßen steht, den Zehnten zahlt, das Fastopfer und, falls sie dazu fähig ist, auch sonst gute Werke unterstützt. Wenn ich dort zuerst helfe, kann ich hoffen, dass damit ein ganzes Schneeballsystem von guten Werken in Gang kommt.
Es gibt noch eine weitere wichtige Schriftstelle, aus der wir erkennen können, dass das Verhältnis unter den Mitgliedern der Kirche einen besonderen Stellenwert hat:
"Ich bitte aber nicht allein für sie (die Jünger), sondern auch für die, so durch ihr Wort
an mich glauben werden,
auf dass sie alle eins seien, gleich wie du, Vater, in mir und ich in dir; …
(Joh. 17: 19 u. 20)
Liebe sollen wir allen Menschen entgegenbringen, aber eins werden sollen wir nur mit denen, die Christus erkannt haben. Christus hat uns nie aufgefordert, mit allen Menschen eine Einheit zu bilden; das wäre unmöglich. Wir können nicht gleichzeitig rechts, links und in der Mitte einer Straße stehen; wir können nicht gleichzeitig Materialist, Mystiker und Agnostiker sein. Gott aber will, dass wir bei Ihm stehen, dass wir Heilige sind.
Und so kommt es, dass zum Beispiel ein Doktor der Physik aus Deutschland eher mit einem Hafenarbeiter aus Japan eins werden soll, der wie er das Priestertum trägt, als mit einem Kollegen aus seinem Betrieb. Es wird vielleicht viel Zeit brauchen, denn der Physiker und der Hafenarbeiter sind durch Erziehung, Tätigkeit, Sozialprestige und Mentalität weit voneinander getrennt, aber wenn beide Gott als Zielpunkt haben, bewegen sie sich notwendigerweise auf Gott und damit aufeinander zu.
Daher halte ich es für ein Alarmzeichen, wenn wir feststellen, dass wir uns mit den meisten Menschen, mit denen wir außerhalb der Kirche zu tun haben, besser verstehen als mit den Mitgliedern. Sollte es Ihnen einmal so gehen, prüfen Sie Ihre Gründe! Vielleicht leben Sie wirklich in einer engherzigen, bornierten Gemeinde, die geistig tot ist und Ihnen wenig zu geben hat. Die wahrscheinlichere Erklärung aber ist, dass Ihr Verhältnis zum Evangelium irgendwie gestört ist, dass Ihr Zielpunkt sich verschoben hat. Wenn Sie feststellen, dass die Einigkeit mit den Geschwistern in der Kirche abnimmt, sollten Sie sich besonders um Einigkeit mit dem himmlischen Vater bemühen.
Dass hier unter uns die Einigkeit, von der Christus sprach, herrschen kann, erbitte ich im Namen Jesu Christi. Amen.